Hans Rudolf Lüscher

Das wohl berühmteste Buch dieser Autorin, ein Bestseller, der auch verfilmt wurde. 541 Seiten, die ich mit grosser Begeisterung las. Falsch am Buch fand ich eigentlich nur den Titel, denn Berlin ist in diesem Roman ebenso präsent wie Paris. Die Geschichte beginnt aber 1917 in St. Petersburg oder neu Petrograd, wo der vornehme und reiche General Ossolin von den Bolschewiken ermordet wird. Seine Tochter Xenia, die Hauptfigur in diesem Roman, flieht mit der kleinen Schwester, dem neugeborenen Bruder und der kranken Mutter, die auf dem Schwarzen Meer stirbt, nach Istanbul und weiter nach Paris, wo sie mit vielen andern Emigranten aus Russland in grosser Armut leben. Die menschlichen Verwicklungen, Liebesgeschichten und andere Schicksale, stark vernetzt mit der Haute Couture in Paris und Berlin, leiten durch die Geschichte, die aber auch eine berührende, mit grosser Liebe zu Detail beschriebene Chronik der Zwischenkriegszeit sowie dem dem Beginn und Verlauf des zweiten Weltkrieges in den beiden Hauptstädten Paris und Berlin ist. Nach den kurzen "goldenen Zwanzigerjahren" folgen Wirtschaftskrise und Aufstieg Hitlers in Deutschland; Vorgänge, die in Paris zunächst kaum ernst genommen werden. Es folgt die Errichtung der Dikatur und zunehmende Verfolgung der Juden in Deutschland, Kriegsausbruch und erfolgloser deutscher Widerstand, das Leben unter der deutschen Besatzung in Paris, von wo die aus Deutschland geflüchteten Juden, Erwachsene und Kinder, weiter in den unbesetzten Süden flüchten. Das Buch endet mit der Befreiung von Paris im August 1944, wobei Xenia ihren Bruder Kyrill wieder sieht, der unter General de Gaulle mitgekämpft hat, sowie mit der Befreiung des KZ Auschwitz im Januar 1945, wobei Sarah Lindner, die jüdisch-deutsche Freundin von Xenia und zweitwichtigste Person im Roman, am Tag der Befreiung tragischerweise stirbt. Eines der spannendsen und hinreissensten Bücher, die mir in letzter Zeit begegnet sind.

Mexikanischer Tango, von Angeles Mastretta: "Andrés war damals schon über dreissig und ich noch nicht fünfzehn …. Er gefiel mir" - So steht es auf der ersten Seite dieses berühmten Romanes, der 1986 unter dem Titel "Arrancame la vida" erschien und schon zwei Jahres später auf Deutsch bei Suhrkamp. Die Ich-Erzählerin Catalina erzählt vom wilden Leben an der Seite von Andrés, der schon bei der ersten Begegnung ein einflussreicher Politiker ist und sich immer nimmt was er will. Ohne lange zu fragen heiratet er die junge Catalina, obwohl er schon von anderen Frauen etliche Kinder hat, die später zur Familie stossen. Die Familie lebt im Luxus, Andrés ist eine grosse Nummer im Mexiko der 1930er und 40er-Jahre, zögert keinen Moment, unliebsame Menschen aus dem Weg zu räumen, nutzt seinen Einfluss, um Reichtum anzuhäufen. Und immer wieder gibt es Frauengeschichten, wobei die Frauen dieser Gesellschaftsschicht nicht zögern, ihren Männern ebenfalls Hörner aufzusetzen, wenn und wann es ihnen beliebt. Es wird eine Gesellschaft geschildert, die korrupter und skrupelloser nicht sein könnte, und dies auf dem Buckel der armen Bevölkerung. Die historisch verbürgte Person Maximinio Ávila Camacho liegt der Figur des Andrés Ascencio zugrunde. Von 1937 - 1941 war er Gouverneur des Bundesstaates Puebla. Sein Ziel, Präsident von Mexiko zu werden erreichte er nicht, denn er starb bereits 1945. Die Autorin Mastretta wurde 1946 geboren, liess ihren Roman also in einer Zeit handeln, die vor ihrer Geburt lag. Aber der persönliche Bezug ist vorhanden: Mastretta ist in Puebla zuhause, ihre Tochter heisst Catalina, genau wie die Erzählerin im Roman, die eine an sich traurige Geschichte, Zustände, wie sie offenbar auch im Mexiko von heute gang und gäbe sind, in einem munteren Plauderton präsentiert. Spannend zu lesen - 327 Seiten.

Mary Craig: Tränen über Tibet (Original "Tears of blood", 1992 by HarperCollings, London). Eine Chronik der Ereignisse ab 1950, welche zeigen, mit welcher Brutalität China Tibet unterjochte, die Kultur zerstörte, den Dalai Lama vertrieb und das Land mit den eigenen Leuten besiedelte. Zwar begann diese Tragödie vor 70 Jahren, aber auch unter Mao Tse Tungs Nachfolgern hat sich Chinas Aggressivität nicht geändert: Hongkong wird unterjocht, Taiwan wird bedroht, im sogenannten "Südchinesischen Meer" schüttet China künstliche Inseln auf, um darauf Militärbasen zu errichten und damit seine Dominanz zu sichern. Mary Craig berichtet dramatisch und engagiert über Tibet, seine Menschen, seine uralte Geschichte – und das, was mit ihnen geschieht.