"Kairos" ist kein Feel-Good-Roman und möchte dies auch gar nicht sein. Bemerkenswert eingängig und gleichzeitig distanziert beschreibt Erpenbeck welche konkreten Auswirkungen die Wende, die oberflächlich und v.a. aus westlicher Perspektive wie ein Happy End aussah, tatsächlich auf die Biografien der Menschen im Osten hatte. Dem Trauma einer ganzen Generation, vom Westen "gekapert" worden zu sein mit allen schwierigen Folgen, steht die verstörende Beziehung zwischen dem in die Jahre gekommenen Hans und der gerade der Kindheit entwachsenen Katharina gegenüber. Spiegelbildlich zum Zerfall der DDR wird hier eine Beziehung vor Augen geführt, in der der Ältere die Jüngere unter dem Deckmäntelchen der Liebe missbraucht und erniedrigt. Die Gewalt, die Hans Katharina antut und der sie sich hingibt, kann m.E. als Folie gelesen werden, dass auch den Bürger*innen der ehemaligen DDR Gewalt angetan worden ist - durch den Stasi-Saat und später durch die Ausradierung ihrer heimatlichen Identität. So gesehen ist der Roman überzeugend komponiert. Ich habe ihn dennoch nicht gerne gelesen. M.E. nimmt die gewaltvolle Sprache, die Obszönität, der Sadomasochismus und die Erniedrigung der jungen Frau einen zu breiten Raum ein und ist bis in die Unerträglichkeit gesteigert (warum???) - ja "verkleistert" geradezu das Gehirn und die lesende Seele. Die Hälfte dieser besitzergreifenden, heteronorm-unterdrückerischen und an Brutalität reichen Beschreibungen hätten gut und gerne gereicht, um die Verlorenheit dieser Liebe (?) zu verdeutlichen, um zu verdeutlichen, dass Menschen sich sowohl im Kleinen, Privaten als auch im Großen, Öffentlichen Traumata zufügen. Ich habe bisher alles von Erpenbeck gelesen und halte sie insgesamt für eine großartige Schriftstellerin. Aber warum sie ausgerechnet für diesen Roman den (internationalen) booker price bekommen hat, ist mir ein Rätsel.